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„Ausbeutung"Oder wie Begriffe besetzt werden und zur Ideologie verkommen
Naivität ist etwas, das sich heute keiner mehr leisten kann. Selbst der obdachlose Zeitungsverkäufer preist sein Blatt mit Reflexion an. Doch längst ist die Naivität in die Reflexion gesickert. Man gibt sich kritisch, aufgeklärt oder hinterfragt alles, um doch nur die Propagandaparolen nachzuplappern, die wirken, weil sie nicht als Propaganda erscheinen. So kann man etwas als reflektierte eigene Meinung ausgeben, das nur das manipulierte "Normalbewusstsein" ist. Dazu bedarf es weder einer Reichsschrifttumskammer noch die Direktiven des Springerkonzerns. Die üblichen Auswahlkriterien der gewerblichen Medien reichen vollkommen aus. Man wird von dem Pluralismus der Meinungen überrumpelt. Die Gewieften suchen sich dann die raffinierteste Deutung heraus. Die wesentlichen Reflexionen, selbst wenn sie vorkommen, gehen jedoch in der repressiven Toleranz des Meinungspluralismus unter. Gegen die Omnipräsens der prokapitalistischen Medien kommt auch das reflektierende Gemüt nicht an. So erklärte mir der obdachlose Verkäufer des Insidermagazins „Asphalt“, als gerade eine Protestkundgebung von streikenden Staatsdienern vorbeizog: „Die sollten doch froh sein, eine Arbeit zu haben, bei deren Lohn würde ich gern zwei Stunden in der Woche länger arbeiten.“ Auf meine Entgegnung hin, dass Arbeitszeitverlängerung Entlassungen ermöglicht, also mehr Arbeitslose, also auch mehr Obdachlose, schwieg er betreten. Vermutlich war ihm sein Wunsch nach einem Arbeitsplatz wichtiger als ökonomische Zusammenhänge. Individuelle Konkurrenz geht vor Solidarität – jedenfalls für die am Rand der Gesellschaft, die um das Nötigste bangen müssen. Wer das Elend der 3. Welt nicht sieht, der sieht auch nicht seine eigene Ausbeutung! Junge Menschen drücken die Meinungen der Bewusstseinsindustrie oft unbekümmerter aus als ihre erwachsenen Bezugspersonen. So äußerte sich in einer Diskussion unter Jugendlichen ein Sechzehnjähriger: "Wer Menschen ausbeutet, muss sich über deren Reaktion nicht wundern. Heutzutage gibt es in den Ländern der 3. Welt viele europäische Firmen, die die Menschen dort unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lassen und sie damit auch ausbeuten." Kritisch gebrüllt Löwe, aber doch grundfalsch. Wer so denkt, wird sich mit Freude ausbeuten lassen, wenn nur sein Chef ihn nicht prügelt, sondern Mitarbeiter zu ihm sagt, und er den Tariflohn erhält, denn er merkt gar nicht, dass er ausgebeutet wird. Das Schema ‑ hier ist alles gut, Ausbeutung findet in der 3. Welt statt ‑ unterschlägt die simple Frage: Investiert jemand eine Million, um einen Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, wenn er am Ende doch nur wieder seine Million herausbekäme? Doch wohl nicht, doch wohl, um aus der Million einen Gewinn zu machen. Dieser kommt aber weder aus dem Banktresor noch aus den Maschinen, noch durch ein geschicktes Management, das den Markt ausnutzt, sondern wesentlich aus einer Kraft, die weniger kostet, als sie an Werten erzeugt. Diese Kraft hat die Fähigkeit etwas Neues zu schaffen, von dem sie nur als Gegenwert ihre notwendigen Lebensmittel erhält, den Rest steckt der Eigentümer in seine Tasche. Er nennt dies Profit, Gewinn, Zins, Dividende usw. Und diese Arbeitskraft nennt sich Lohnarbeiter, abhängig Beschäftigter, Angestellter, Arbeiterin und Arbeiter, Ingenieur usw. Und wenn der pädagogische Grundsatz gilt, dass gut behandelte "Mitarbeiter" mehr leisten als kleinlich schikanierte nach dem Motto: "Adeln, nicht tadeln", dann wird der Lohnabhängige hier stärker ausgebeutet als der indische Kuli, der von Aufsehern angetrieben ist. Kommt noch eine höhere Arbeitsproduktivität durch die modernsten Maschinen hinzu, dann wirft ein Industriearbeiter in Westeuropa bedeutend mehr Profit ab als der gepeinigte Handlanger auf einer Baustelle in China. Wie war doch die herrschende Meinung, die unser jugendlicher Freund so treffend formuliert? Die europäischen Firmen würden in der 3. Welt "die Menschen dort unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lassen (was ja oft stimmt) und sie damit auch ausbeuten", was die Sache völlig verdreht, da sie in der Regel weniger ausgebeutet werden als die "zufriedenen Mitarbeiter" hier. Die Abwehr in die Einsicht, was Ausbeutung ist, geht Hand in Hand mit der Illusion, hier sei alles besser. So wünscht sich das Kapital seine zukünftigen Beschäftigten.
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