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Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion

II. Teil: Die subjektive Wertphilosophie

 Inhalt

1.      Einleitung

2.       „Wertfreiheit“ benötigt „Werte“  - Zur Problemstellung bei Max Weber

Das „Normalbewußtsein“ von Windelband

3.      Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule

4.      Zur Begründung der Werte

5.      Das „Normalbewußtsein“ als Träger der Werte

6.      Der axiologische Gottesbeweis

     Kritik der wertsetzenden Theologie von

     Windelband

 

Die höchste Gestalt der subjektiven Wertphilosophie       

Die Axiologie von Heinrich Rickert

7.      Hiatus irrationalis

8.      Die Erkenntnistheorie von Rickert

9.      Philosophie als Methodenlehre

10.  Rickerts Wertphilosophie im engeren Sinne

11.  Die Begründung von Kulturwerten bei Rickert

12.  Kritik der Begründung von Kulturwerten

13.  Die Sinngebung mittels Werten als Ideologie

14.  Die Realisierung der Werte oder die Ethik 

     der  Wertphilosophie

15. Weltanschauung als Ideologie

16. Der Fortschrittsbegriff als Kriterium 

     des Klassenstandpunktes

Schlussüberlegungen

17.  Die Probe aufs Exempel: Max Webers Soziologie

18.  Subjektive und objektive Wertphilosophie

 

Literatur

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1.   Einleitung

Im ersten Teil der „Kritik der Wertphilosophie“ habe ich Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung bestimmt. Notwendig falsch wird ein Bewusstsein, wenn es von oberflächlichen Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft ausgeht, weil es derart nicht zu dem wahren Wesen und den Triebkräften dieser Gesellschaft und ihrer Ökonomie vorstoßen kann. In dieser Bedeutung von Ideologie wurde nachgewiesen, dass Hermann Lotzes Einführung des Wertbegriffs in die Philosophie ein solches ideologisches Bewusstsein darstellt. (Vgl. zu diesem Begriff: Kuhne: Ideologiebegriff)  Der Maßstab für ein falsches Bewusstsein als Ideologie, selbst wenn es sich auf empirisch beobachtbare Fakten beziehen kann, ist das wahre Bewusstsein vom Wesen dieser Produktionsweise, wie es sich aus den stimmigen Analysen von Karl Marx und deren Anwendung auf die heutigen Erscheinungen ergibt.

 Philosophie ist aber als wissenschaftliches avanciertes Bewusstsein im Wesentlichen keine Ideologie, sondern an Wahrheit und Objektivität orientiert. Philosophen, die bestimmte Gedanken rechtfertigen wollen, müssen diesen Anspruch anerkennen, wollen sie sich nicht von vornherein dem Verdacht aussetzen, bloße Meinungen (doxa) von sich zu geben. Es wäre z.B. absurd, Philosophen, die den Anspruch auf Wahrheit aufgeben, wie heute etwa die postmodernen Denker, auch nur ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie doch nur ihrem Selbstverständnis nach theoretische Märchen erzählen. Derartiges Denken kann lediglich Gegenstand satirischer Vernichtung sein.

 In der akademischen Philosophie herrscht heute der Skeptizismus vor. Er ist in allen seinen Varianten widersprüchlich, weil er sich selbst als wahr ansieht, obwohl er doch generell Wahrheit anzweifelt. Und er widerspricht völlig dem faktischen Anwachsen wahrer Erkenntnisse. Als vorherrschendes, weil staatlich gefördertes philosophisches Bewusstsein hat er deshalb die ideologische Funktion, ein wahres Selbstbewusstsein über das herrschaftlich verfasste Bestehende zu verhindern.

 Zurück zum Anfang

 Noch weniger akzeptabel ist der Philosophieverschnitt der Sonntagsreden, Feuilletons und Talkshows mit ihrem Wertgeraune. Es folgt einer heute durchgängig skeptischen bürgerlichen Philosophie (Popper, Marquard, Spaemann, Lübbe usw.), setzt seinen Skeptizismus als absolute Wahrheit, um gegen andere „Weltanschauungen als einzig wahre“ anzustinken. Exemplarisch steht dafür ein Buch mit dem programmatischen Titel „Krieg der Werte“ vom Chefredakteur des Feuilletons der „Neuen Züricher Zeitung“ M. Meyer. Bereits der Untertitel „Wie wir leben, um zu überleben“ stellt eine Kriegserklärung des „westlichen Selbstverständnisses“ an die unbotmäßigen fremden Kulturen dar. Wer behauptet, eine Wahrheit zu besitzen, wird zum Terroristen erklärt (Krieg, S. 12). Der Autor konstatiert eine „Intensivierung des Feindbewußtseins“, das im Krieg der Werte produktiv gemacht werden müsse gegen „fanatische Religionspartisanen“ (S. 115), Fundamentalterroristen (S. 22) und gegen alle, die sich der „Doktrin des freiheitlich-demokratischen Weltbildes“, die „machtpolitischen Interessen“ zum Sieg zu verhelfen, widersetzen. Doch vor dem heißen Krieg kommt der Propagandakrieg. „Im Krieg der Werte ist noch nichts entschieden.“ (S. 20)  Es wundert nicht, dass die FAZ dieser propagandistischen Kriegserklärung „zwingende Stringenz der Argumentation“ (Klappentext) bescheinigt.

 Wenn ich Philosophie als Ideologie kritisiere, dann ist dies auch nicht mit einer „Wissenssoziologie“ zu verwechseln, die jeden Gedanken mit den jeweiligen Klasseninteressen derjenigen verbindet, für die ein Wissenschaftler angeblich denkt, und so jede Art wahren Denkens im soziologischen Material auflöst, d.h. eine an sich bereits prekäre Spezialwissenschaft wie die Soziologie (siehe Kapitel 17) zur Totalitätswissenschaft aufspreizt. Die soziologisierende Philosophiehistorie etwa von Clemens Knobloch trägt nichts zur Klärung der Bedeutung des Neukantianismus bei, etwa wenn er über die Zeit vor und nach 1933 in Deutschland schreibt:

 „Weggebrochen ist sichtlich auch die Konstellation, die den epistemologischen Neukantianismus gehalten hat. Die Funktion, erkenntnistheoretische Fundierung für die siegreichen Naturwissenschaften bereitzustellen, wird von den Fächern selbst übernommen, wie die Weltbild-Revolution der Physik sinnfällig macht. Fortan unterhalten die Naturwissenschaften ihre eigene Erkenntnistheorie und tragen den Kopf gegenüber der Philosophie hoch. Daran freilich ist der NS (Nationalsozialismus, B.G.) nicht schuld. Anders als bei der kritischen Theorie und beim Wiener Neopositivismus richten die Nazis zwar die Beerdigung des Neukantianismus aus, das Todesurteil ist indes schon vorher gesprochen.“ (Knobloch: 1933, S. 15)

 Solche historischen Feststellungen, selbst wenn sie faktisch verifizierbar sind, sagen nichts darüber aus, ob der Neukantianismus wahre Gedanken hatte, ob seine Wertphilosophie schlüssig ist oder ob die dilettierende „Weldbild-Revolution der Physik“ überhaupt das trifft, was sie vorgibt zu erklären oder zu begründen. Gegen das Ertränken konkreter Gedanken im soziologischen Material, gegen die Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs und gegen das Paradigmendenken muss am Anspruch des Neukantianismus festgehalten werden, allein  notwendige und allgemein gültige Urteile im systematischen Zusammenhang als wahre Wissenschaft anzusehen. Selbst da, wo der Neukantianismus seine eigenen Ansprüche nicht durchhält und ins Irrationale abgleitet oder direkt ideologisch wird, wie etwa bei Rickerts Kritik des historischen Materialismus, muss dieser Anspruch gelten und gegen ihn geltend gemacht werden. Eine soziologische Philosophiehistorie dagegen reicht überhaupt nicht an den philosophischen Gedanken heran, wenn sie vom Ansehen, von der Anzahl der Lehrstühle sowie den damit verbundenen Geldern und ähnlichen äußerlichen Aspekten einer philosophischen Richtung ausgeht.

 Zurück zum Anfang

 Die wahre Kritik an einer Philosophie kann deshalb  immer nur eine immanente sein. Deren Resultat ist dann allerdings mit der Funktion dieser Philosophie in der Gesellschaft zusammenzubringen, um sie als Ideologie oder nicht zu erweisen. Erst aus dieser Einsicht heraus hätte eine historisch empirische Analyse einen Sinn, nämlich herauszufinden, wie stark ihre ideologische Wirkung in Konkurrenz mit anderen Ideologemen tatsächlich war. Dieser letzte Schritt kann nicht Gegenstand dieser Kritik am Neukantianismus sein. Sie beschränkt sich auf die immanente Kritik und die Bestimmung wesentlicher Aspekte als Ideologie.

 Entgegen einem unwissenschaftlichen Wertbegriff, wie er heute im Umlauf ist, versucht die neukantianische Philosophie von Windelband und Rickert mit den Mitteln der wissenschaftlichen Philosophie eine Werttheorie zu begründen. Sie muss deshalb über Lotze, dessen Schule sie zum Teil fortsetzt, hinausgehen und versuchen, die Widersprüche des Lotzeschen Wertedenkens und seine offensichtlichen Subreptionen zu vermeiden. Werden bei Lotze denkimmanente und ontologische Begründungen der Werte miteinander verquickt, so versucht die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus allein aus dem denkenden Subjekt ihre Werte zu begründen.

 In dieser „Kritik der Wertephilosophie Teil II“ werde ich zeigen, dass auch dieser Versuch, aus dem denkenden Subjekt heraus Werte zu begründen scheitern muss. Wert als philosophische Bestimmung ist ein völlig überflüssiger Begriff in der philosophischen Terminologie. Warum soll man wissenschaftlichen Resultaten noch ein Prädikat wie „wertvoll“ oder „nicht wertvoll“ hinzufügen, gar diese Adjektive substantivieren? Selbstverständlich wertet jeder gelegentlich das, was er vorfindet. Diese Wertung ist aber individuell. Die Wertphilosophie will aber objektive Wertungen geben, die dann sogar zur Grundlage der Wissenschaften werden sollen. Sie hat deshalb das Problem, wie sie Werte objektiv und allgemein begründen kann, damit auch andere sie qua Einsicht akzeptieren können. Sie hat auch das Problem, zu begründen, warum überhaupt solche Wertungen notwendig sind für die Einzelwissenschaften und die Philosophie, insbesondere die Ethik. Dabei verquickt sie ihren Wertbegriff sowohl mit moralischen Prinzipien wie mit ästhetischen und sogar logischen Bestimmungen, die alle unter den Wertbegriff widersprüchlich subsumiert werden (vgl. Kapitel 12). 

 Lässt sich zeigen, dass Werte von neukantianischen Positionen aus nicht begründbar sind, dann setzt sich dieser Teil ihrer Philosophie dem Verdacht aus, bloß eine ideologische Veranstaltung zu sein. Da jedoch das gesamte philosophische System besonders bei Rickert als Wertphilosophie konzipiert ist, wird sich dieser Verdacht auch auf Aspekte seiner Wissenschaftstheorie erstrecken. 

 Die Einbeziehung Max Webers in diese Kritik der Wertphilosophie ergibt sich aus seiner theoretischen Nähe zu der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Wenn Windelbands und Rickerts Wertphilosophie für die Soziologie von Max Webers die „Wissenschaftstheorie“ darstellt (vgl. Oakes: Grenzen, S. 15 f.), dann wirft die Kritik an der Wertphilosophie auch ein Schlaglicht auf die Webersche Soziologie, deren Schule sich bis heute tradiert, während der Neukantianismus in der bürgerlichen Philosophie außer Mode gekommen ist und nur von einigen nacherzählenden Philosophen wie Christian Krijnen hochgehalten wird.

Meine Kritik der Wertphilosophie ist denn auch nicht vorrangig philosophiehistorisch motiviert, sondern sie will dem heutigen Wertgeraune eine theoretische Basis entziehen. Kritik an der Wertphilosophie ist ein Beitrag zur Ideologiekritik, damit Herrschaft in Form des anonymen Kapitals über die Lohnarbeit als längst überflüssige bloßgestellt und endlich verschwinden kann.

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2.   „Wertfreiheit“ benötigt „Werte“

      Zur Problemstellung bei Max Weber

 Max Weber geht von der Erfahrung aus, dass eine Projektion von subjektiven Wertungen in die zu erforschenden Tatsachen hinein zu keinen objektiven als wahr anzuerkennenden Resultaten führt. Bevor man wertet, solle man erst die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Diese Auffassung steigert Max Weber zu einer „prinzipiellen Scheidung von Erkenntnis des ‚Seienden’ und des ‚Seinsollenden’. (Objektivität, S. 186)  Anscheinend war die geistige Korruption in der wissenschaftlichen Arbeit und dem Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit schon so weit fortgeschritten, dass solche Selbstverständlichkeiten  wie die Anerkenntnis von Tatsachen eigene Kampfschriften notwendig machten mit Namen wie „Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ und „Der Sinn der Wertfreiheit“. Weber spricht 1914 z.B. von "Jahrzehnte dauernde(n) völligen Verfall der theoretischen und der streng wirtschaftswissenschaftlichen Arbeit überhaupt“ (Wertfreiheit, S. 306).

 „Wertungen“ sind für Max Weber „praktische Bewertungen einer durch unser Handeln beeinflußbaren Erscheinung als verwerflich oder billigenswert“, „praktisch wünschenswert oder unerwünscht“ (Wertfreiheit, S. 263). Schon die tautologische Definition von „Wertung“ als „praktische Bewertung“ deutet auf die Unsicherheit des Wertbegriffs hin, der nach 1900 bereits zu einem festen Ideologem der bürgerlichen Philosophie geworden war. Weber ist der Ansicht, dass „praktische Wertungen sozialer Tatsachen“ „unter ethischen oder Kulturgesichtspunkten oder aus anderen Gründen“  zur Sache „offenbar gar nichts“ beitragen. Im Widerspruch dazu konzediert er aber auf derselben Seite, dass bereits die „Auswahl des Stoffes eine ‚Wertung’ enthält“. (Wertfreiheit, S. 263)  Was von der Wissenschaft verlangt werden müsse, auch wenn sie „Wertungen“ selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht, ist die Unterscheidung, „daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht.“ (Wertfreiheit, S. 265)  Die Begründung von Werten ist nicht Aufgabe der empirischen Sozialforschung, sondern der Wertphilosophie: „Gar nicht zur Diskussion steht eigentlich die Frage: inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits normative Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben als z.B. die als Beispiel angeführte Frage, ob Blondinen den Brünetten vorzuziehen seien, oder ähnlich subjektive Geschmacksurteile. Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen.“ (Wertfreiheit, S. 265) 

 Wenn „Wertungen“ die nachträgliche praktische „Bewertung“ empirischer Tatsachen usw. sind, dann haben Werturteile tatsächlich nichts mit dem Gegenstand zu tun, sie sind ihm äußerlich wie Geschmacksurteile, selbst wenn es gelänge, „Werte“ einigermaßen objektiv zu begründen. Weber sagt: „Zunächst möchte ich mich dagegen wehren, daß den Anhängern der ‚Wertfreiheit’ die bloße Tatsache des historischen und individuellen Schwankens der jeweils geltenden wertenden Stellungnahmen als Beweis für den notwendig nur ‚subjektiven’ Charakter z.B. der Ethik gelte. Auch empirische Tatsachenfeststellungen sind oft sehr umstritten und darüber, ob man jemand für einen Schurken zu halten habe, kann oft eine wesentlich größere allgemeine Übereinstimmung herrschen als (gerade bei den Fachleuten) etwa über die Frage der Deutung einer verstümmelten Inschrift.“ (Wertfreiheit, S. 265) 

 So richtig diese historische Feststellung ist, die unterstellte Identität von Ethik (Moralphilosophie) und Wertphilosophie dagegen ist falsch, ein Vorurteil der bürgerlichen Philosophie seiner Zeit, die begierig den Wertbegriff Lotzes aufgriff, weil er ein ideologisches Bedürfnis erfüllt (siehe Teil I, Erinnyen Nr. 16). Ethik hat es in der Tradition von Aristoteles bis Kant und Hegel mit Tugenden und Moralprinzipien bzw. Moralgesetzen zu tun. Tugenden existieren nur als zur Gewohnheit gewordene moralische Charaktereigenschaften. Prinzipien sind ein Erstes, das Handeln bestimmen soll. Werden Prinzipien oder das Moralgesetz nicht angewandt, sind sie kein „Erstes“, also keine Prinzipien oder Gesetze, die soziales Verhalten regeln, sondern bestenfalls unwirksame Ideale. Dagegen sind Werte von vornherein nichts weiter als Beurteilungsmaßstäbe unabhängig davon, ob der Gegenstand ihnen entspricht oder nicht, ob er ihnen überhaupt entsprechen kann oder nicht, sie sind unverbindliche Zusätze, die man auch weglassen könnte, oder, wie meist faktisch, individuelle Wertungen im Range von beliebigen Geschmacksurteilen. Die Sachwissenschaften, die sich auf empirische Daten stützen, von solchen Wertungen frei zu halten, ist ein berechtigtes Interesse von Max Weber. Aber damit ist das Problem ethischer Prämissen von wissenschaftlicher Forschung nicht erledigt. (Vgl. P.Bulthaup: Funktion, S. 115 ff.)

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 Bei Max Weber äußert sich das moralische Moment jeder wissenschaftlichen Forschung zunächst als krasser Widerspruch der angestrebten wertfreien Objektivität zu der Erkenntnis, dass Wissenschaft, vor allem Kulturwissenschaft nicht frei sein kann von moralischen Implikationen. „(...) wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.“ (Objektivität, S. 187)  Weber erstrebt die „Objektivität der Erkenntnis“ (Titel), die „denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit“ (Objektivität, S. 189/196), in der „Werte“ lediglich als Gegenstand der Forschung eingehen. Andererseits gilt für ihn: „Es gibt keine schlechthin ‚objektive’ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder – was vielleicht etwas Engeres, für unsern Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet – der ‚sozialen Erscheinungen’ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen’ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.“ (Objektivität, S. 211 f.) 

 Zunächst können „Werte“ selbst zum Gegenstand der empirischen Forschung werden. „Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als ‚seiend’, nicht als ‚gültig’, behandelt.“ (Wertfreiheit, S. 299)  Um die Verquickung mit den eigenen Werten des Forschers zu vermeiden, müsse dieser zur Selbstreflexion seiner Werte kommen, damit sie aus der empirischen Untersuchung herausgehalten werden können. Denn bei der empirischen Arbeit muss „eine reinliche Scheidung der Wertsphäre von der empirischen Arbeit“ durchführbar sein. (Wertfreiheit, S. 306)  Die Folge solcher Wertabstinenz in den Sozialwissenschaften ist aber, dass sie nur formal sein, nur technische Ratschläge geben können. Sie können immer nur sagen, auf eine Ursache folge eine Wirkung unter diesen oder jenen Bedingungen mit entsprechenden Nebenwirkungen. Aber sie kann nie sagen, was man tun solle. „Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf  die Frage: was ‚kostet’ die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte?“ (Objektivität, S. 188)  Wissenschaft ist dadurch nur eine „technische“ Kritik; „jede Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinen eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt.“ (Ebda.)

 Diese Reduktion der Wissenschaft auf die Bereitstellung von technischem Wissen für handelnde Politiker oder soziale Gruppen widerspricht sich selbst. Nicht nur dass solche Arbeiten hauptsächlich den Gebildeten zugänglich sind, die vor 1914 vor allem dem Bürgertum angehören, die Neutralität des Forschers, sein „Nicht-Handeln“ bei Wertentscheidungen, wie Weber selbst weiß, kann „Parteinahme“ sein (Objektivität, S. 188). Bereits die Entscheidung des empirischen Sozialforschers, Wahrheit und Objektivität der Erkenntnis anzustreben, ist selbst schon eine „Wert“-Entscheidung in der Philosophie des Neukantianismus, der Weber nahe steht.

 Zurück zum Anfang des Kapitels 2.

Idealtypus

 Dass es keine „reine“ empirisch Sozialforschung (Wertfreiheit, S. 277) geben kann, zeigt sich an seinem Begriff des „Idealtypus“. Eine bloß beschreibende Darstellung von sozialen Tatsachen, z.B. eine „deskriptive Wirtschaftskunde“ (S. 204), wäre noch keine Wissenschaft. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit sozialer Erscheinungen müsste – unter neukantianistischen Prämissen - der empirische Sozialforscher bestimmte auswählen und andere weglassen, da er die Unendlichkeit des Mannigfaltigen nicht beschreibend bewältigen kann. Die Auswahlkriterien für die darzustellenden Tatsachen bringt der Forscher aber von vornherein mit, sie sind nicht Teil des Materials, sondern sein Zusatz, im besten Fall geronnene Erkenntnisse der Tradition, das akkumulierte Wissen vorausgehender Forschung, einschließlich ethischer Implikationen. Traditionell wurde zwischen Wesen und Erscheinungen unterschieden, bei Hegel wird das Wesen zum Gesetz der Erscheinungen. Da diese metaphysischen Begriffe für Webers neukantianische Position nicht mehr akzeptabel sind (bestenfalls metaphorisch verwendet werden), muss er nominalistisch das Problem von Wesen und Erscheinung lösen, indem er methodische Surrogate für den Wesensbegriff erfindet: Diese Funktion übernimmt meiner Überzeugung nach der Begriff des „Idealtypus“.

 Er wird zum Auswahlkriterium für die Darstellung von Erscheinungen. Zunächst einmal konzediert Weber, dass es keine objektive wissenschaftliche Analyse gebe (vgl. Wertfreiheit, S. 211 f.)  Damit die soziale Wirklichkeit „in ihrer Eigenart“ (Objektivität, S. 212) verstanden und erklärt werden kann, aus der „absolute(n) Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit“ nicht bloß willkürlich Teile isoliert werden, sucht er nach dem „Typus“ (Objektivität, S. 213), nach einer „kausale(n) Erklärung“ (Objektivität, S. 219), nach der „Kulturbedeutung“ eines Phänomens, den vorherrschenden Wertideen (als Objekt der Untersuchung). Diese Begriffe schießen bei Max Weber zusammen im Begriff des ‚Idealtypus’.

 „Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ‚Hypothese’, aber er will Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung  eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die ‚Idee’ der historisch  gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z.B. die Idee der ‚Stadtwirtschaft’ des Mittelalters als ‚genetischen’ Begriff konstruiert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff ‚Stadtwirtschaft’ nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus. (Wertfreiheit, S. 234 f.)  Dass dieser Idealtypus nicht in der sozialen und historischen Wirklichkeit aufgefunden wird, sondern ausdrücklich eine Zutat des Forschers ist, spricht Weber direkt aus: „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als ‚stadtwirtschaftlich’ im begrifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seinen spezifischen Dienst.“ (Objektivität, S. 235) 

 Ob der Begriff des „Idealtypus“ tatsächlich produktiv für die sozialwissenschaftliche Forschung ist, kann hier nicht erörtert werden. Auf jeden Fall kommt keine empirische Sozialforschung oder die Untersuchung von historischen Epochen und Phänomenen ohne Auswahlkriterien, Kausal- und Gesetzes-Vorstellungen aus. Wenn sie eine Erkenntnis geben will, wenn sie also mehr sein will als eine willkürliche Beschreibung von zufälligen Partikularitäten, dann muss der Sozialforscher, Ökonom oder Historiker in seine Untersuchung etwas einbringen, was nicht direkt den empirischen Gegenstand zu entnehmen ist. Selbst die bloße Deskription von Erscheinungen setzt Logik und Sprache voraus, die nicht z.B. in den historischen Überresten oder der historischen Tradition, die Gegenstand sind, enthalten sein müssen.

 Zu diesem Zusatz vom forschenden Subjekt gehören auch ethische Implikationen – und sei es die, der Objektivität und Wahrheit verpflichtet zu sein. Max Weber hat dies so formuliert: „Gewiß, ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung ihrgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele, seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht, werden die ‚Auffassung’ einer ganzen Epoche zu bestimmen, d.h. entscheidend zu sein vermögen: nicht nur für das, was als ‚wertvoll’, sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als ’wichtig’ und ‚unwichtig’ in den Erscheinungen gilt.“ (Objektivität, S. 224 f.) 

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 Hatte Max Weber seine wissenschaftstheoretischen Aufsätze geschrieben, um für die empirische Sozialforschung „Wertfreiheit“ zu fordern, so zeigt die genauere Analyse dieser Problematik, dass es keine „wertfreie“ Sozialforschung geben kann. Die behaupteten „absolut heterogenen Ebenen“ (Wertfreiheit, S. 265) von „Werten“ und Tatsachen erweisen sich als ein notwendiger innerer Zusammenhang. Der Grund dafür liegt in der Unmöglichkeit, Wissenschaft allein mit deskriptiven Sätzen zu betreiben, sie enthält notwendigerweise präskriptiven Sätzen, die vom Forscher dem Material hinzugefügt werden und die immer auch unter ethischen Prinzipien stehen – und sei es nur dem dianoetischen Prinzip, sich an Wahrheit und Objektivität zu orientieren. (Nach P. Bulthaup: Funktion, S. 117 ff., gilt dies auch für die Naturwissenschaften.)

 Max Webers Lösung der Aporie von zu fordernder Wertfreiheit und deren Unmöglichkeit bei der Forschung und Darstellung besteht darin, zu fordern, dass der Forscher sich Klarheit über die eigenen Werte und die derjenigen verschafft, die Gegenstand der Untersuchung sind. „Durch empirisch-psychologische und historische Untersuchung eines bestimmten Wertungsstandpunktes auf seine individuelle, soziale, historische Bedingtheit hin gelangt man nun und nimmer je zu irgend etwas anderem, als dazu: ihn verstehend zu erklären. Das ist nichts Geringes.“ Andererseits gilt: Ohne Wertideen als strukturierendes Prinzip ist keine empirische Sozialforschung möglich. (Vgl. Wertfreiheit, S. 267)  Durch Verstehen entsteht dann eine Wertdiskussion mit den eigenen „Werten“ des Forschers. „Denn dies ist der eigentliche Sinn einer Wertdiskussion: das, was der Gegner (oder auch: man selbst) wirklich meint, d.h. den Wert, auf den es jedem der beiden Teile wirklich und nicht nur scheinbar ankommt, zu erfassen und so zu diesem Wert eine Stellungnahme überhaupt erst zu ermöglichen. Weit entfernt davon also, daß vom Standpunkt der Forderung der „Wertfreiheit“ empirischer Erörterungen aus Diskussionen von Wertungen steril oder gar sinnlos wären, ist gerade die Erkenntnis dieses ihres Sinnes Voraussetzung aller nützlichen Erörterungen dieser Art. Sie setzen einfach das Verständnis für die Möglichkeit prinzipiell und unüberbrückbar abweichender letzter Wertungen voraus.“ (Wertfreiheit, S. 267)

 Eine solche Wertdiskussion, die bei der Erkenntnis „letzter Wertungen“ endet, die sich schroff gegenüber stehen, hat nicht die Aufgabe, zu einer Einigung in letzten Fragen zu kommen. Diese Einigung scheint nach Max Weber unmöglich. „Was man dagegen auf diesem Wege ganz gewiß nicht gewinnt – weil es in der gerade entgegengesetzten Richtung liegt -, ist irgendeine normative Ethik oder überhaupt die Verbindlichkeit irgendeines ‚Imperativs’.“ (Wertfreiheit, S. 268)  Der Grund für die Unmöglichkeit zu normativen Wertvoraussetzungen der Forschung zu kommen, liegt für Weber in den Interessengegensätzen der Klassengesellschaft (siehe Kapitel 19). So ergibt sich für Max Weber das Dilemma, dass für die empirische Sozialforschung Werte eine notwendige Voraussetzung der Auswahl der Tatsachen sind, diese Werte sich aber nicht als objektive und allgemein geltende begründen lassen, jedenfalls nicht auf dem Boden der empirischen Sozialforschung selbst.

 Die Aufgabe, solche Werte zu bestimmen und in ihrer Geltung zu begründen, kommt nach Max Weber der neukantianischen Wertphilosophie zu. „Wo diese Aufgaben (die Welt metaphysisch zu deuten und Werte zu begründen, B.G.) etwa liegen würden, ist freilich ein Problem zunächst der Erkenntnislehre, dessen Beantwortung hier für unsere Zwecke dahingestellt bleiben muß und auch kann.“ (Objektivität, S. 195). Konkret nennt Weber Windelband und Rickert (vgl. Wertfreiheit, S. 292 u. 277). Wertdiskussionen „können dem wissenschaftlich insbesondere dem historisch arbeitenden Forscher vor allem die Aufgabe der ‚Wertinterpretation’: für ihn eine höchst wichtige Vorarbeit seiner eigentlich empirischen Arbeit, weitgehend abnehmen oder doch erleichtern.“ (Wertfreiheit, S. 277)

 Wenn die empirische Sozialforschung von begründbaren „Werten“ abhängt, will sie nicht nur auf dieser oder jener Seite im „Krieg der Werte“ ( siehe 1.) stehen, dann entscheidet die Wertphilosophie über die Objektivität und den Wahrheitsgehalt dieser Forschung. Gelingt es ihr nicht, solche Werte als notwendig geltend zu begründen, so dass „auch für den Chinesen die Geltung einer denkenden Ordnung empirischer Wirklichkeit“ (Objektivität, S.195) einsehbar ist, dann setzt sich diese bürgerliche Wissenschaft dem Verdacht aus, Ideologie zu produzieren, weil ihre Gegenstände durch Herrschaft geprägt sind (siehe Kapitel 20) und in ihrer Konstruktion ein ideologisches Moment in  Gestalt der „Werte“ und Deutungsmuster enthalten ist.

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Stand: 24. Juli 2006